Die höchst subjektiven Eindrücke von Alex:
Mit den Wardens im Nevernever
Ich renne mit Ariadna, Ida und Orlova durch das Tor ins Nevernever auf die Wardens zu. Captain Luccio führt die Gruppe an. Das bedeutet Ärger. Ich frage mich, welcher meiner rezenten Fehltritte mir jetzt auf die Füße fallen wird. Aber das erfahre ich ja gleich. Viel schlimmer ist doch gerade: Der Rote Vampir-König ist entkommen! Er kennt jetzt die Namen von Ariadna, Ida und Orlova, ihre Titel und ihre Gesichter … das ist schon wieder so ein Super-GAU. Ich hätte die Peripherie besser sichern sollen. Ernst-August wäre das nicht passiert.
Captain Luccio und die Wardens sehen völlig fertig aus. Ich werfe einen unauffälligen Blick auf meine drei Begleiterinnen und stelle fest, dass die auch einen ziemlich erschöpften Eindruck machen. Ariadna und Orlova stellen uns bei Captain Luccio vor. Mist, das wäre mein Job gewesen. Initiative entglitten. Das wäre Ernst-August definitiv nicht passiert. Ich versuche, mit einem bissigen Kommentar noch was zu retten, der lässt Ariadna und Orlova aber gänzlich unbeeindruckt. Na egal, ich hab jetzt andere Probleme. Captain Luccio ist unangenehm intensiv an den Hexen interessiert. Jetzt bloß keinen Fehler machen – ich hab mein Wort gegeben, dass es keine blindwütigen Aktionen des Weißen Rates geben wird. Captain Luccio hört mir immerhin aufmerksam zu. Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Orlova sich wie selbstverständlich bei den anderen Wardens einreiht. Das sieht bei ihr so natürlich aus, wie sie da Teil der Wardentruppe wird. Ich hasse es, dass ich sie in dem Moment beneide. Abgelenkt gerät mein Bericht ins Stocken, Captain Luccio schaut mich tadelnd an. Ich komme stotternd zum Ende und merke, dass meine Ohren heiß werden. Das macht wieder keinen guten Eindruck. Ariadna fügt wortgewandt noch ein paar Details an. Ich staune über die geschliffenen Formulierungen, die ich nicht mal in geschriebener Form hinbekäme. Aber dann übertreibt sie schamlos, als sie versucht, meine Entscheidungen in ein besseres Licht zu rücken. Nett von ihr, aber Captain Luccio lässt sich von so was natürlich nicht beeinflussen. Trotzdem, coole Frau, diese Ariadna. Da fällt mir ein, dass ich sie unbedingt mal nach ihrem Schlagring fragen will. Mit dem habe ich sie ein paar wirklich eindrucksvolle Treffer bei den Roten Vampiren landen sehen. Jetzt berichtet Orlova ebenfalls dem Captain und ich zwinge mich, wieder aufmerksam zuzuhören. Neben den üblichen Spitzen gegen meine Entscheidungen, berichtet sie aber auffällig wenig über die Hexen. Das hebt sie sich wahrscheinlich für den Senior Council auf. Aber ich frage mich, ob sie überhaupt die Namenslisten gelesen hat. Ich bin mir nicht mehr sicher. Vermutlich eher nicht. Trotzdem, ich muss das noch mal unter vier Augen ansprechen, falls wir eine Gelegenheit dazu finden. Wenn ich nicht so schrecklich müde und unkonzentriert wäre.
Ida bereitet in der kurzen Verschnaufpause Tee zu. Sie strahlt so eine beständige Ruhe und Zuversicht aus, dass ich unwillkürlich ihre Nähe suche. Teetrinkend schweifen meine Gedanken ab, bis ich bemerke, dass Ariadna und Orlova eine Wache um das Lager organisiert haben. Daran hätte ich auch denken müssen. Die anderen Warden werfen mir abschätzige Blicke zu.
Ich hatte nicht den Eindruck, Ausflüchte gesucht zu haben, als Captain Luccio mich anwies, ihr zum Senior Council zu folgen, aber als ich sie in einem letzten Versuch daraufhinweise, dass ich noch nicht mal einen Mantel, geschweige denn ein Schwert habe, reagiert sie leicht genervt. Ich füge mich und folge dem Trupp. Ariadna und Ida werden explizit nach Edinburgh eingeladen. Orlova ist ganz in ihrem Wardentrupp aufgegangen. Sie sieht ja auch aus wie ein ordentlicher Warden.
Überfall in der Dunkelheit
Auf dem Weg zu sicheren Pfaden nach Edinburgh sinkt plötzlich Dunkelheit auf uns herab. Licht- und Feuermagie können die Schwärze nicht durchdringen, wie ich den Zauberworten und anschließenden Flüchen der anderen Wardens entnehmen kann. Ich höre leises Klicken hinter mir, wo Ariadna herumnestelt, und nehme an, dass sie eine Taschenlampe ausprobiert. Einen Effekt kann ich aber nicht erkennen. Ich verstehe noch gar nicht, was überhaupt los ist, da wird Ariadna neben mir von etwas angefallen. Orlova ruft irgendwas Taktisches, dessen Kürzel ich so rasch nicht interpretieren kann, dann senkt sich die Schwerkraft um uns herum. Gute Idee! Und offenbar behindert es den oder die Angreifer. Ich stelle mir vor, das Nevernever sei einer meiner Albträume und versuche, die Umgebung mit meinem Willen zu beeinflussen. Ich will Licht. Das Ergebnis ist mager, es wird nur geringfügig heller. Das alles fühlt sich zunehmend bedrückend an. Ich zucke unwürdig zusammen, als Ariadna mir praktisch ins Ohr brüllt: „Es sind Hobs! Wir werden von Hobs angegriffen!“ Ah! Sehr gut, dann weiß ich, was zu tun ist. Ich höre Idas Webplättchen neben mir klackern. Mir wird überraschend klar, dass das Geräusch mittlerweile positive Erwartungen bei mir auslöst. Dabei kenne ich die Frau noch gar nicht so lange, aber ich habe längst Vertrauen zu ihr gefasst. Und ich stelle fest, dass ich auch dem Wardentrupp vertraue. Hier sind alles fähige Leute in derselben miesen Situation, was uns definitiv zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammenschmiedet. Egal was wir auch sonst voneinander halten, ich will, dass wir das alle unbeschadet überstehen! Ich denke flüchtig an Jean-Claude und daran, wie leicht und blitzschnell er mit seinen Winterkräften aus dieser Dunkelheit entkommen könnte. Da werden mir endlich die Möglichkeiten der drastisch abgesenkten Schwerkraft bewusst. Mit einem Satz nach oben gelange ich über die Zone der Dunkelheit – ein Sprung auf den Jean-Claude wirklich stolz wäre. Sein warmer Atem an meinem Ohr, entspannte Raubtiermuskeln, pure Glücksmomente. Als ich wieder zurück in die Dunkelheit sinke, umhüllt mich gleißendes Licht wie ein Mantel der Macht. Ich weiß noch nicht mal genau, wie das passiert ist. In meiner Lichtsäule sehe ich die Hobs kreischend vor der Helligkeit zurückweichen, aber offenbar kann niemand sonst mein Licht wahrnehmen. Ich brauche mehr Licht. Jean-Claudes Augen, in denen eine warme Flamme zum Leben erwacht. Sein noch ungewohntes strahlendes Lächeln. Das Licht meines Kaminfeuers auf seiner Alabasterhaut. Mein Lichtmantel explodiert und pures Sonnenlicht weitet sich ringförmig um mich aus. Wirbelnde Schneeflocken reflektieren die Strahlen millionenfach. Die Hobs vergehen heulend und jaulend. Meine Gefährten blinzeln in der jähen Helligkeit.
Später sitze ich auf dem Waldboden und warte, bis Ariadna mit dem Erste-Hilfe-Kit auch bei mir vorbeikommt, um die tiefen Krallenspuren zu verbinden. Niemand ist unverletzt aus dem Kampf herausgekommen. Es beschämt mich, dass ich die Dunkelheit nicht bereits vor dem ersten Angriff als die typische Hob-Düsternis erkannt habe. Immerhin war das nicht mein erster Kampf gegen die miesen kleinen Kreaturen. Ich kann mich an die Abbildung in Ernst-Augusts Kreaturenbuch erinnern. Und, dass ich die Kreaturenbeschreibungen auswendiglernen musste. Die anderen Wardens mustern mich kritisch, als wir aufbrechen. Captain Luccio pustet eine ziemlich große Schneeflocke (hier am Sommerhof!) von ihrer Hand. Ihr Blick ist so voller Misstrauen, dass selbst ich das bemerke.
Edinburgh
Als wir in Edinburgh ankommen, empfinde ich die Gänge und Hallen der Festung wie immer als bedrückend. Björn sagt, dass das an dem unverarbeiteten Trauma mit dem Verhör durch den Merlin liegt, aber darüber bin ich längst hinweg. Die Festung des Weißen Rates sollte Wärme und Sicherheit ausstrahlen. Stattdessen wirkt sie bedrohlich und mahnend. Es liegt an der Festung, nicht an mir.
Orlova gibt die Gastgeberin für Ariadna und Ida. Die Gräfin bewegt sich hier, als sei sie zu Hause. Ich fühle mich irgendwie fremd, aber ich bin auch ziemlich müde, da werde ich immer wehleidig.
Senior Council Member Listens-to-the-wind begrüßt uns schließlich. Von Ida ist er schwer beeindruckt, aber auch Ariadna wird gebührlich empfangen. Das macht mich nachdenklich und ich betrachte Ida zum ersten Mal nicht als exzeptionelle befreundete Magieanwenderin, sondern als die Schicksalsgewalt, die sie ist: die Skuld. Und Ariadna sehe ich zum ersten Mal als eine hochrangige Vertreterin einer alliierten übernatürlichen Macht. Ein paar beiläufig fallengelassene Kommentare von Captain Luccio kommen mir in den Sinn, in denen sie anmerkte, dass ich außergewöhnliche Bekanntschaften pflege. Würde sie in Berlin arbeiten, käme ihr das nicht mehr so verdächtig vor!
Nach den Begrüßungen lässt sich Senior Council Member Listens-to-the-wind von mir Bericht erstatten; er ist freundlich und aufmerksam, so wie ich ihn von unserem letzten Treffen noch kenne. Er ist der einzige im Senior Council, den ich wirklich mag, auch wenn ich großen Respekt vor ihm habe. Er ist kaum aus dem Raum, als Senior Council Member Ancient Mai umringt von vier Wardens eintritt. Ohne Umschweife stellt sie sich vor mich, nimmt meinen Kopf zwischen ihre Hände und starrt in meine Augen. Sie hätte einfach fragen können. Mein Herz pocht bis in meine Schläfen, was sie bestimmt mit ihren kalten Fingern spüren kann. Ich wünschte, ich hätte meine Angst besser im Griff. Die kalten Hände des Merlin an meinen Schläfen, die kalte Sondierung meiner Erinnerungen, die kalten Albträume, Björns Hand, die mich weckt. Als Ancient Mai ihre Finger von mir löst, steht mir der Schweiß auf der Stirn. Ein offenes Buch ist nichts gegen mich. Ich dagegen habe in die Seele der Weisheit der Zeitalter geblickt und senke ehrfürchtig den Blick. Noch bevor das Rauschen in meinen Ohren nachgelassen hat, sind Ancient Mai und ihre Wardens bereits gegangen. Ich lächle den anderen achselzuckend zu und zeige nicht, wie beschämend ich das finde.
Die Begegnung mit Senior Council Member Cristos ist von allen die verstörendste. Er gibt sich jovial, höflich und verständig. Ariadna ist ganz angetan von ihm. Er warnt mich sogar vor Senior Council Member McCoy. Ich bin so perplex, dass ich ihn vermutlich die ganze Zeit mit einem dümmlichen Gesichtsausdruck angestarrt habe. Am Schluss kann ich mich kaum daran erinnern, was ich überhaupt gesagt habe. Wäre Josefine hier, sie würde mich mitleidig belächeln. Ernst-August würde mich später im grünen Salon rügen.
Orlova wird von einem Warden in Captain Luccios Büro gerufen. Jetzt bekommt sie ihre Chance alles auszuplaudern und jede meiner Entscheidungen zu kommentieren. Immerhin hatten wir noch die Chance, kurz wegen der Hexen zu reden. Das kann sie natürlich auch gegen mich verwenden. Wenn sie mir mein Amt als Warden entziehen, habe ich immer noch Jean-Claude. Irgendwie wird alles gut – solange sie mich nicht hinrichten. Das müssten sie dann aber ganz schnell tun, bevor Jean-Claude davon erfährt … aber das werden sie ja wohl wissen … und mit einplanen … ein Plot gegen den Winterhof …
Als Orlova nach Stunden zurückkommt, wirkt sie zwar zufrieden, gibt sich aber nicht so überheblich wie sonst. Hm. Ist das jetzt gut oder schlecht für die Hexen und mich?
Ariadna und Ida begleiten uns, als Orlova und ich vor den Senior Council geführt werden. Das Ganze findet betont inoffiziell im Atrium statt, das ich bereits von früheren Besuchen mit Ernst-August kenne. Nachdem der Merlin und Senior Council Member McCoy Ida und Ariadna nun ebenfalls angemessen begrüßt haben, kommt McCoy ohne Umschweife zur Sache. Mit kaum unterdrücktem Zorn zählt er jede meiner größeren Entscheidungen als Warden der letzten paar Jahre auf und seziert sie gnadenlos im strahlenden Licht seiner konservativen Rechtschaffenheit. Klar, im Nachhinein bin ich auch immer schlauer. Ja, und vieles erscheint jetzt zweifelhaft. Mir auch. Ich übe mich in stoischer Gelassenheit, versuche aufmerksam zu sein und einen höflichen Gesichtsausdruck zu wahren. Ehrlich, McCoy, Sie zweifeln nichts an, das ich nicht bereits viele Male selbst angezweifelt habe. Besonders den Vertrag mit Josefine, an dessen Aushandlung ich noch nicht mal selbst beteiligt war. Aber es ist, wie es ist.
Dann ergreift Cristos das Wort und verteidigt mich. Ich kann vor lauter Überraschung den Worten kaum folgen. Warum macht er das? Welchen Plan verfolgt er damit? Will er mich zu seinem Werkzeug machen? Die Fragen überschlagen sich in meinem Kopf. Ich werde abrupt wieder aufmerksam, als die Vorwürfe gegen Ernst-August beginnen. Er habe bei meiner Ausbildung versagt? Habe mich falsch beraten? Mir nicht genügend Hilfe geleistet? Und am Ende wird sogar Orlova beschuldigt? Moment mal! Ich halte mich mühsam zurück, bis man mir das Wort erteilt und lasse nichts, aber auch gar nichts auf Ernst-August kommen. Und auf Orlova letztendlich auch nicht, wo kämen wir denn da hin! Plötzlich komme ich in diesen Redefluss, wo die Gedanken und die Worte eine Einheit bilden. Ich vergesse völlig, wer da alles vor mir steht und rede, argumentierte und verteidige. Sachlich und höflich, wie ich das von Ernst-August gelernt habe. Danke, Ernst-August! Am Ende habe ich schon den Eindruck, Listens-to-the-wind und vielleicht den Merlin überzeugt zu haben. Das reicht natürlich nicht, aber ich weiß nicht, was ich noch sagen soll, ohne mich zu wiederholen. Also schweige ich. Dann tritt Ariadna vor und verteidigt den Vertrag mit Josefine. Mit wohl gesetzten Worten, sprühendem Charisma und in diplomatischer Vollendung. Wow. So kann man so was also formulieren. Orlova grummelt irgendwas von Vergangenheit ruhen lassen und so. Okay. Und dann sagt Ida einen Satz, der alles ändert: Auch wenn Alex stets ein kleineres Übel wählen muss, sehe sie doch die besten Voraussetzungen für eine positivere Zukunft. Der Senior Council ist einen Moment sprachlos. Ida lächelt leise.
Nach der Beratung des Senior Councils werden Orlova und ich über die Beschlüsse informiert: Der Vertrag mit Josefine in Berlin bleibt bestehen. Orlova wird Deutschland als Warden zugeteilt und sie soll die Hexen-Community untersuchen. Ihr süffisantes Lächeln trifft mich wie eine glühende Lanze. Als wir gehen, raune ich ihr zu: „Ich will keine Hexenverbrennungen in Deutschland, verstanden?“ Und aus welchen Untiefen meiner Seele der Nachsatz „Aber Feuer können Sie ja nicht“ herkam, weiß ich auch nicht. Das war billig. Hat aber irgendwie gut getan.